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«Ärzte sollen mit ihrer Expertise auch zum Allgemeinwohl beitragen»

Ausgabe Nr. 128
Sep. 2020
Kinder und Jugendliche

Susanne Stronski Huwiler, Kinderärztin und Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Bern, erklärt im Gespräch, wieso bei Adoleszenten konkrete Präventionsbotschaften besser funktionieren als abstrakte. Und wieso sich Kinder- und Hausärzte stärker gesundheitspolitisch einbringen sollten.

Dr. med. Susanne Stronski Huwiler

Susanne Stronski Huwiler hat in Fribourg und Bern Medizin studiert – und dann den Facharzttitel Pädiatrie in Luzern und Bern erworben. Anschliessend war sie als Oberärztin auf der Neonatologie des Frauenspitals Bern tätig, bevor sie für einen mehrjährigen Forschungsaufenthalt an der University of Minnesota in die USA zog. Dort beschäftigte sie sich mit der «Adolescent Medicine» und schloss zudem einen Master in Public Health ab. Von 2001 bis 2015 leitete sie den schulärztlichen Dienst der Stadt Zürich. Aktuell arbeitet Stronski Huwiler als Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Bern und in Teilzeit als Oberärztin auf der Neuro- und Entwicklungspädiatrie der Kinderklinik in Bern.

Frau Stronski, im Vergleich mit vor 20 Jahren konsumieren Jugendliche heute weniger Drogen, dafür verbringen sie mehr Zeit vor dem Bildschirm. Wie ungesund ist das?

Wir wissen ja seit Paracelsus, dass nichts per se gesund oder ungesund ist, sondern: Es ist die Dosis, die das Gift macht. Bei den digitalen Medien liegt das Hauptproblem darin, dass bei einem exzessiven Konsum die Zeit für anderes fehlt, etwa zum Lernen oder für Bewegung an der frischen Luft. Hinzu kommt, dass das Blaulicht aus den Bildschirmen den Schlaf-Wach-Rhythmus, der bei Jugendlichen ohnehin verschoben ist, noch weiter destabilisiert. Die einseitige Ernährung und die vom Schlafmangel beeinflusste fehlende Bewegung gehören zu den Hauptgründen, wieso heute ein knappes Viertel der Jugendlichen übergewichtig oder sogar adipös ist. Mir fällt auch auf, dass die Wahrnehmung für das Hier und Jetzt immer mehr verloren zu gehen scheint: Man sitzt zwar im Bus, ist aber mental ganz woanders.

In einem kürzlich erschienenen Fachbeitrag (*) fordern Sie, dass sich die Prävention an den Entwicklungsaufgaben orientieren sollte, die Adoleszente im Verlauf ihres Übergangs vom Kinder- ins Erwachsenenalter zu lösen haben. Was meinen Sie damit?

Jugendliche durchleben eine Zeit mit raschen körperlichen Entwicklungsprozessen. Es entsteht ein sexueller Antrieb – und man stellt sich mit neuer Dringlichkeit Fragen wie «Wer bin ich?», «Wo ist mein Platz in der Welt?» und «Wozu bin ich da?». In der Adoleszenz findet eine tief greifende Reorganisation des Gehirns statt. Nicht gebrauchte Synapsen werden abgebaut, der Anteil an grauer Substanz sinkt, dafür steigt der Anteil an weisser Substanz im Hirn. Die Denkprozesse werden schneller und effizienter, jedoch nicht alle zur gleichen Zeit: Zuerst reifen die Strukturen des Belohnungssystems. Die Areale des präfrontalen Kortex, wo unter anderem die Impulskontrolle sitzt, reifen zuletzt. Solche Erkenntnisse sollten bei der Gestaltung von Präventionsmassnahmen berücksichtigt werden.

Inwiefern?

Gerade für die Substanzabhängigkeit – insbesondere die Abhängigkeit von Nikotin – ist das jugend­liche Gehirn deutlich vulnerabler als das Erwachsener. Mit den Präventionsbotschaften sollten wir weniger auf abstrakte und mehr auf konkrete Inhalte abzielen – und die Jugendlichen nicht nur vor Raucherbeinen und Lungenkrebs warnen, also vor Risiken, denen sie erst viel später in ihrem Leben ausgesetzt sind. Sondern wir sollten den Jugendlichen etwas, was sie direkt betrifft, vor Augen führen, zum Beispiel den finanziellen Aufwand. Wenn Jugendliche ausrechnen, welchen Anteil ihres Taschengelds sie für den Zigarettenkonsum aufwenden müssten, wenn sie mit dem Rauchen beginnen würden, stellt sich oft ein Aha-Effekt ein. Zu einer guten Prävention gehören aber nicht nur jugendgerechte Botschaften, mindestens ebenso wichtig sind auch griffige staatliche Regelungen, etwa ein umfassendes Werbeverbot für Tabakprodukte. 

In Ihrem Beitrag weisen Sie auf die Bedeutung der Schule für die Gesundheit von Jugendlichen hin.

Ja, zu den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen gehört auch, dass sie sich neue Lebenswelten ausserhalb der Familie erschlies­sen. Für viele spielt dabei die Schule eine herausragende Rolle. In den drei obligatorischen Jahren der Sekundarstufe I besuchen Jugendliche im Durchschnitt etwa 4000 Lektionen. Dass dabei – gemäss dem Lehrplan 21 – vermehrt auch Lebens- und Gesundheitskompetenzen vermittelt werden sollen, begrüsse ich. Zudem zeigen statistische Auswertungen, dass der Bildungserfolg einen massgeblichen Einfluss auf die lebenslange Gesundheit hat, weil ein tiefer Bildungsstatus öfter als ein hoher mit einem ungünstigen Gesundheitsverhalten und einer Akkumulation von Risikofaktoren einhergeht. Daher betrifft die Prävention, die im Jugendalter ansetzt, auch die Gesundheit von Erwachsenen. Und weil die heutigen Jugendlichen die Eltern von morgen sind, betrifft die Prävention sogar auch die Gesundheit der folgenden Generationen.

In Ihrem Beitrag beklagen Sie, dass das Präventionspotenzial der Gesundheitsberichterstattung in der Schweiz nicht ausgeschöpft werde.

Wir sind mit unserem Gesundheitssystem gut unterwegs, aber wir wissen sehr wenig darüber, wie es funktioniert. Das gilt für die Erwachsenenmedizin – und noch viel mehr für die Medizin für Kinder und Jugendliche. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz bezüglich Gesundheitsdaten eine regelrechte Datenwüste. Auf der politischen Ebene wird das zusehends anerkannt. Das zeigt sich zum Beispiel auch darin, dass im Nationalen Gesundheitsbericht 2020 die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Hauptfokus steht. Um das System steuern zu können, brauchen wir Daten. Die sind in der Schweiz zwar da, liegen aber meist ungenutzt etwa in Hunderten verschiedener Arztpraxen. Nur wenn wir diese Daten – in anonymisierter Form – zusammenführen, können wir sie auch nutzen.

Sind Jugendliche gut aufgehoben im Schweizer Gesundheitssystem?

Wie gesagt: Grundsätzlich haben wir hierzulande ein System, das im weltweiten Vergleich sehr gute Leistungen erbringt. So ist die Schwangerschaftsabbruchrate bei Teenagern mit 3 von 1000 jungen Frauen eine der tiefsten weltweit. Trotzdem sehe ich noch Verbesserungspotenzial: Es gibt in der Schweiz keine jugendspezifische Anlaufstelle in der Medizin, so wie etwa in den USA, wo die sogenannte «Adolescent Medicine» spezielle Gesundheitsversorgungsangebote für die Altersgruppe von 12- bis 25-Jährigen bereithält.

Worum müsste sich die «Adolescent Medicine» sonst noch kümmern?

Im Vergleich mit Pensionierten gehören Jugendliche natürlich zum gesunden Teil der Bevölkerung. Trotzdem gibt es auch jugendspezifische gesundheitliche Probleme: In diesem Alter machen sich beispielsweise viele psychische Erkrankungen erstmals bemerkbar – und werden häufig erst spät erkannt. Für viele Personen mit chronischen Krankheiten ist die Adoleszenz eine schwierige Zeit, weil die Erkrankungen in dieser Phase oft entgleisen. Einerseits, weil mit der körperlichen Entwicklung vielfach auch das bisher gefundene Gleichgewicht verloren geht und etwa bei Diabetikern neu gefunden und eingestellt werden muss. Aber andererseits, weil Jugendliche auch Regeln brechen und überschreiten wollen. Einem jungen Asthmatiker ist es vielleicht wichtiger, mit seinen Kollegen in den Ausgang zu gehen, als sich strikte an die Anweisungen der Eltern oder der Ärztin zu halten. Das ist ein Stück weit verständlich, weil es dem Jugendlichen auch um das Streben nach Autonomie geht. Hier könnte man ansetzen – und den Jugendlichen in seinem Findungsprozess unterstützen, denn schliesslich ist er es, der lernen muss, wie er mit seiner Erkrankung leben will.

Welche Aufgaben nehmen Schulärzte wahr?

Schulärzte nehmen mit ihren jugendmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen die Prävention auf der Ebene des Individuums wahr. Gleichzeitig bringen sie ihre medizinische Expertise auch beratend ein und wirken auf einer übergeordneten Ebene als eine Art Betriebsarzt im System Schule. Oft geht es darum, gesundheitliche Risiken einzuschätzen, also um Fragen wie: Kann der Sporttag bei diesen Ozonwerten noch durchgeführt werden? Oder wie gefährlich ist die elektromagnetische Strahlung von Transformatoren, die gleich neben dem Schulhaus stehen? Hier müssen Schulärzte oft Übersetzungsarbeiten leisten. Dazu gehört, auch Risiken, die von der Allgemeinheit mitunter überhöht wahrgenommen werden, mit Risiken zu vergleichen, denen man sich gewollt oder alltäglich aussetzt. Beim Beispiel mit den Transformatoren etwa entsprach das Risiko durch ihre Strahlung ungefähr dem der kosmischen Strahlung, die auf einem Interkontinentalflug anfällt.

Warum möchten Sie, dass sich auch Haus- und Kinderärzte vermehrt auf politischer Ebene einbringen?

Aus der Sicht von Medizinern gibt es so viele Sachen, die eigentlich nicht verhandelbar sind. Aber wenn wir unsere Meinung nicht laut kundtun, ändert sich nichts. Ich war längere Zeit in den USA, wo es selbstverständlicher ist, dass die Ärzteschaft ihr Fachwissen auch in gesundheitspolitische Diskussionen einbringt. Dieses gesellschaftliche Engagement fehlt mir in der Schweiz ein Stück weit. Klar sollten sich Ärzte in erster Linie um das individuelle Wohl ihrer Patientinnen und Patienten kümmern, aber darüber hinaus sollten sie sich nicht scheuen, mit ihrer Expertise auch zum Allgemeinwohl beizutragen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Die US-amerikanische Fachgesellschaft für Pädiatrie hat schon vor Jahren eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie sich klar gegen das Aufstellen von Süssgetränk-Automaten in Schulgebäuden geäussert hat. Die Faktenlage zeigt eindeutig, dass das Fehlen solcher Automaten zu einem relevanten Rückgang von Übergewichtigen führt. Doch hier in der Schweiz traute man sich lange nicht, das so zu sagen. Deswegen haben wir damals im schulärztlichen Dienst von Zürich jahrelang für die Verbannung der Süssgetränkeautomaten aus den Schulgebäuden kämpfen müssen.

Bei der Diskussion um das neue Tabakproduktegesetz (TPG) bringen sich die Kinderärzte doch ein?

Ja, das neue TPG ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Leider sind im Gesetz immer noch nur partielle Werbeeinschränkungen vorgesehen. So wird das Ziel, Kinder und Jugendliche umfassend vor dem Einstieg in den Tabakkonsum zu schützen, noch nicht erreicht. Ich hoffe, dass die Erfahrungen mit der Initiative «Kinder ohne Tabak» viele Kolleginnen und Kollegen motiviert, sich künftig vermehrt für strukturelle Veränderungen und eine gesundheitsförderliche Umgebung einzusetzen. Denn aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer Glaubwürdigkeit sind Ärzte bestens für ein anwaltschaftliches Engagement zugunsten einer positiven Entwicklung von Jugendlichen geeignet.

Zum Schluss noch eine Frage zu einem anderen Thema: zum neuen Coronavirus. Welche Auswirkungen hatte der Lockdown auf die Gesundheit der Jugendlichen?

Zu einer gesunden Entwicklung gehört, dass Jugendliche eigene Lebenswelten ausserhalb der Familie erschaffen. Stattdessen wurden sie im Lockdown auf die Ursprungsfamilie zurückgeworfen. Zudem konnten einige Jugendliche mit psychiatrischen Symptomen ihren Arzt oder Psychologen nicht mehr sehen. Bewegungsmangel zusammen mit falscher Ernährung, eventuell noch kombiniert mit Schlafmangel durch exzessiven Gebrauch von sozialen Medien können zu Übergewicht führen. Allerdings können wir zum Ausmass noch keine Aussage machen, ebenso fehlen Zahlen zu den psychischen Erkrankungen.

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Dr. med. Susanne Stronski Huwiler

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